Ansprache 27. Januar 2011, gehalten am 29.01.2011 von Eberhard Wagner
Warum treffen wir uns heute hier? Nun schon zum 15. Mal? Natürlich um uns zu erinnern und zu gedenken.
Wir erinnern uns und gedenken heute an alle Menschen, die den nationalsozialistischen Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Wir gedenken aber nicht derer, die auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen und mit geholfen haben, dass es in Deutschland zur Errichtung des nationalsozialistischen Verbrecherstaates gekommen ist. Auch viele von denen wurden leider ebenfalls betroffen an Leib und Leben. Aber sie zähle ich nicht zu den Opfern, an die wir heute gedenken.
Der 27. Januar ist der Gedenktag für die eigentlichen Opfer. Heute denken wir an die Juden, an die Sinti und Roma, an die Homosexuellen, an Behinderte, Regimegegner(innen), Widerständler und viele andere Ermordete, die in Konzentrationslagern umgebracht wurden, ebenso an die Zwangsarbeiter und Deserteure.
Insbesondere denken wir heute an den Marpinger Sozialdemokraten Alois Kunz, der am 23. Oktober 1942 in Auschwitz ermordet wurde, nachdem er am 08. September 1939, 1 Woche nach Kriegsbeginn, von der Gestapo verhaftet wurde und fortan sein Heimatdorf nicht mehr sah. Seine politische Unnachgiebigkeit und sein Mut sollten auch heute noch Vorbild für unser eigenes Verhalten sein. Er kämpfte damals für die Freiheit, die wir heute Gott-sei-Dank haben.
Der NSDAP-Ortsgruppenleiter, der ihn durch seine Anzeige ins KZ und in den Tod brachte, wird im Marpinger Ehrenbuch ebenso noch geehrt wie ein SS-Mann aus Marpingen, der sich freiwillig zu den SS-Wachmannschaften nach Auschwitz gemeldet hatte und dort von 1941 bis 1945 als KZ-Aufseher Dienst tat.
Nach unserer Meinung ist es an der Zeit, dieses Ehrenbuch, das der Gemeinde nicht zur Ehre gereicht, aus dem Verkehr zu ziehen und für ungültig zu erklären.
Diesen Antrag hatte ich mündlich vor einem Jahr am 27. Januar 2010 vor dem Ausschuss für Kultur gestellt, dieser sah aber wie auch der GR keinen Handlungsbedarf dafür. Stattdessen beschloss der Gemeinderat – Sie haben es vielleicht auch selbst in den Marpinger Nachrichten gelesen – dass die Nazi-Zeit in der Gemeinde Marpingen nun zusammen mit dem Landkreis, aber unter der Federführung von Marpingen, endlich aufgearbeitet werden soll. Aber nur, wenn geklärt ist,
• was der Inhalt ist,
• was passieren soll,
• wer es machen soll,
• was es kosten soll und
• wie es finanziert werden soll.
So stand es in der Niederschrift der GR-Sitzung, veröffentlicht in den Marpinger Nachrichten.
Meine Empfehlung dazu:
Die GR-Mitglieder sollten das „Alternative Heimatbuch Marpingen und der Kreis St. Wendel unter dem Hakenkreuz" aufmerksam lesen, dann bräuchten sie nicht mehr zu beschließen, was der Inhalt eines solchen Projektes sein sollte. Aber wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt. Ich hoffe nicht blamabel für Marpingen. Immerhin haben das Alternative Heimatbuch und unser Antrag bezüglich des Ehrenbuches bewirkt, dass sich der Gemeinderat wieder mit der unseligen Nazi-Geschichte befassen musste, auch wenn man immer noch keinen Handlungsbedarf bezüglich des Ehrenbuches sieht.
Es kann auch nicht als Grund gelten gelassen werden, was der BM in seinem gestrigen Bürgerbrief schreibt: „Die heutige Einheitsgemeinde Marpingen, die in der Verwaltungsreform 1974 ... entstanden ist, hat damit nichts zu tun." So einfach sollte man es sich nicht machen. Die Geschichte beginnt ja nicht neu, wenn eine Verwaltungsreform durchgeführt wird.
Dazu noch folgendes: Heute Morgen tagte in Alsweiler eine Versammlung von Heimatforschern, mit der Zielsetzung ein Projekt auf die Beine zustellen, in dem die Nazi-Zeit im Kreis St. Wendel aufgearbeitet werden soll. Ein Vertreter unseres Vereins, der dieses Ziel seit über 15 Jahren verfolgt, war dazu nicht eingeladen, weil, so wörtlich, meine „Art des Umgangs mit der NS-Geschichte und das jetzt zu erörternde Projekt sich konzeptionell grundlegend von einander unterscheiden". Daran sieht man, dass sich die bestehende Heimatforschung immer noch schwer tut mit der Erforschung der Nazi-Zeit in unserer Region.
Aber so wie man in Marpingen mit dem Widerstandskämpfer Alois Kunz umgegangen ist und wie man heute auch noch keinen Handlungsbedarf in Sachen Ehrenbuch sieht, so ist der Umgang mit der unseligen Nazi-Vergangenheit immer noch brisant, insbesondere wenn es darum geht, welche Konsequenzen man zieht.
Ich lese gerade das Buch „Das Amt und die Vergangenheit", das zu dem Schluss kommt, dass das damalige Auswärtige Amt eine verbrecherische Organisation war. Dort werden viele Namen genannt, wer NSDAP-Mitglied war und wer was gemacht hat, und wie es nach dem Kriege weiterging.
Zwei kurze Biographien aus diesem Buch zeigen, dass die Handlungsweise im Umgang mit ehemaligen Nazis in Marpingen kein Einzelfall war und ist. In dem Buch werden u.a. die Lebnsläufe von Franz Krapf und Fritz Kolbe beschrieben, die ich Ihnen als Beispiel vortragen will:
Krapf, trat 1938 in den Auswärtigen Dienst ein, war Mitglied der SS, der NSDAP, des SD der SS. Er war als Mitarbeiter der Botschaft in Tokio mit der „Endlösung" befasst. 1947 kehrte er nach Deutschland zurück, ab 1951 arbeitete er wieder im Auswärtigen Amt und war u.a. Botschafter in Japan und bei der Nato. 1976 trat er in den Ruhestand, den er noch 28 Jahre als Botschafter a.D. genießen konnte. Kolbe, trat 1925 in den Auswärtigen Dienst ein und arbeitete in Madrid und in Kapstadt. In die NSDAP einzutreten weigerte er sich. Ab 1943 lieferte er geheime Nachrichten und Dokumente an den amerikanischen Geheimdienst. Nach Kriegsende unterstützte er die USA bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses. Als er 1951 die Wiederaufnahme in das Auswärtige Amt anstrebte, wurde ihm diese verwehrt und er wurde als Verräter stigmatisiert. Erst 2004 wurde seine Widerstandstätigkeit offiziell gewürdigt.
Vielleicht ist Ihnen auch die kleine Notiz in der SZ von vor 14 Tagen nicht entgangen, wonach der deutsche Geheimdienst schon 10 Jahre vor der Verhaftung Eichmanns wusste, wo der sich versteckte, aber keine Konsequenzen daraus zog.
Ich denke, dass wir jetzt 66 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz doch soweit sein sollten, dass wir die Konsequenzen, die wir noch ziehen könnten, auch konsequent ziehen.
Mit dem Landrat sind wir auf diesen Weg eingebogen. Er honoriert unsere schon bisher geleistete Arbeit stark und hat selbst Initiativen und Aktivitäten gesetzt. Am vergangenen 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht, wurde in einer kleinen Gedenkstunde am ehemaligen Standort der Synagoge in St. Wendel vom Landrat schon zum 2. Mal ein Kranz niedergelegt. Und zusammen mit Landrat Udo Recktenwald hat unser Verein dafür gesorgt, dass auch in der Kreisstadt mit „Stolpersteinen" an die jüdischen Opfer St. Wendels erinnert wird. Die Verlegung der Steine ist am Samstag, dem 09. April 2011.
Im Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden, legen wir nun diesen Kranz an der Erinnerungstafel an Alois Kunz nieder.