Das alternative Heimatbuch

Die jüdische Familie Berl war eine hoch angesehene Familie in der Kreisstadt St. Wendel, betrieb in der Schloßstraße 6 ein kleines Textil-Ladengeschäft und war voll in das gesellschaftliche Leben der Stadt St. Wendel integriert. Aber all das konnte Erna Berl nicht helfen und ihr Leben retten. Auch sie fand keine Gnade.

Am 15. September 1935 wurden die „Nürnberger Rassengesetzte" formuliert, mit denen sich der faschistische Staat das wichtigste Instrument geschaffen hatte, um die jüdische Minderheit total zu entrechten. Mit einer Fülle von Ausführungsverordnungen und weiteren Anordnungen kriminalisierte und grenzte man die jüdischen Deutschen aus dem gesellschaftlichen Leben aus, was geradewegs zu ihrer Ermordung führte. Die saarländischen Juden waren durch die „Römischen Abkommen" noch bis zum 29. Februar 1936 vor der Anwendung der Rassengesetzgebung geschützt, aber danach kannten auch die Gerichte hier kein Erbarmen mehr.

(5)Eugen and Fritz 1927Der Ehemann Eugen Berl war voll in das St. Wendeler kulturelle und politische Leben integriert und kann somit als gelungenes Beispiel für die Assimilation des größten Teils der jüdischen Bevölkerung im Saargebiet gelten.
Geboren am 08.11.1870 war er in erster Ehe mit Marianna Ermann verheiratet, die am 31.07.1919 in St. Wendel verstarb. Aus dieser Verbindung entstammen die Kinder Irma und Max.

Irma, geboren am 12. Juni 1900 in St. Wendel, heiratete am 26. August 1920 Paul Rosenberg aus Cleve. Sie überlebte die Shoa nicht und wurde 1942 im Ghetto Lublin ermordet.
Max wurde am 1. Mai 1902 ebenfalls in St. Wendel geboren und flüchtete im Juli 1933 ins damalige Palästina.

Mit seiner 2. Ehefrau Erna, geborene Herz, hatte er einen weiteren Sohn, nämlich Friedrich Bernhard, genannt Fritz. Fritz wurde am 23.08.1925 geboren.

Ab Mitte der 20er Jahre betrieb Eugen zusammen mit Erna in der Schloßstraße 6 ein Textilgeschäft, das mit 8 Angestellten zu den größten der Kreisstadt gehörte.
 

Als Ende 1918 oder Anfang 1919 der SPD-Ortsverein St. Wendel gegründet wurde, war Berl eines der Gründungsmitglieder. Von 1920 bis November 1932 war er Mitglied des Stadtrats und scheiterte bei der Stadtratswahl am 11. November 1932 mit Listenplatz 3 nur knapp am Wiedereinzug in das Stadtparlament. 1923, 1926 und 1927 führte er jeweils die Stadtratsliste der SPD St. Wendel an. Von Januar 1927 bis Ende März 1934 - am 30.03.1934 berichtete die „St. Wendeler Zeitung", dass „das bisherige Kreistagsmitglied, Herr Kaufmann Eugen Berl aus St. Wendel sein Amt als Kreistagsabgeordneter niedergelegt" habe - war Berl fast zwei
Legislaturperioden für die SPD 

(8a)Eugen, Fritz and the 4. is Erna. the rest are workers,Mitglied im Kreistag. Neben seinen Funktionen als Mandatsträger war er auch über 10 Jahre im Vorstand der SPD St. Wendel, einige Jahre auch als Vorsitzender. Ab 1923 war er bei allen Wahlen jeweils Wahlvorsteher des Stimmbezirks II im Wahllokal Hotel Riotte. Ab 1921 bis zu seinem Tode 1936 war er Vorsitzender der jüdischen Synagogengemeinde des Kreises St. Wendel und 1920 hatte er schon durch seinen Antrag mit dazu beigetragen, dass die St. Wendeler Gemeinde die Korporationsrechte erhielt.Eugen Berl war aber nicht nur durch seine politischen Aktivitäten und seine Aufgaben in der jüdischen Gemeinde bekannt und angesehen, sondern auch durch sein kulturelles Wirken, das weit über den Kreis St. Wendel hinausging. 1902 wurde auf seine Initiative hin der Musik- und Gesangverein MGV Orphea 1902 gegründet, dessen musikalischer Leiter und Dirigent er bis 1930 war.  Der MGV war unter dem Einfluss von Berl auch stark im sozialen Bereich tätig und führte zahlreiche Wohltätigkeitskonzerte durch. Daneben war er noch Dirigent des Arbeitergesangvereins „Bruderbund" und half, obwohl Jude, bei Bedarf als Orgelspieler in der christlichen St. Wendeler Basilika aus. Seit 1903 arbeitete er im Vorstand des Saar-Sängerbundes mit und wurde noch am 12. März 1933, nach 1925 zum zweitenmal, zum 2. 

(2ab),. 1925 Wertungssingen in HeiligenwaldVorsitzenden des Gaus St. Wendel gewählt. Aber Mitte des Jahres 1933 begann der allmähliche Umschwung im Umgang mit der jüdischen Minderheit, auch in St. Wendel. Hatte Eugen Berl in der Kreistagssitzung Ende März 1934 wohl unter dem Eindruck der immer stärkeren Einflussnahme der antisemitischen „Deutschen Front" unter Führung der Nationalsozialisten schon freiwillig sein Mandat niedergelegt, so wurde er in der Stadtratssitzung von Samstag, dem 13.10.1934, als Schiedsmann für den Bezirk 1 abgewählt und durch den Kaufmann Pfeiffer ersetzt. In der Niederschrift über die Sitzung war zu lesen: „Die Amtszeit der Schiedsmänner und deren Stellvertreter ist abgelaufen. An Stelle des Kaufmanns Eugen Berl wurde der Kaufmann Jakob Pfeiffer gewählt. Alle anderen wurden wieder bestätigt. (Zwischenruf: ‚Arierparagraf')."

Als er am 01. August 1936 starb, hatte Eugen Berl einen Großteil seines Lebens der Stadt St. Wendel gewidmet. Einen Dank dafür bekam er aber nicht, im Gegenteil. Schon bei seiner Beerdigung erschien kein offizieller Vertreter der Stadt St. Wendel und auch heute erinnert an keinem öffentlichen Platz irgendein Hinweis an ihn. 

Schon kurz nach Ablauf der Schutzfrist der sogenannten Römischen Verträge am 29. März 1936 wurden in St. Wendel Erna und Eugen Berl wegen Vergehens gegen das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" angeklagt. Hauptangeklagter war der Ehemann Eugen Berl, der aber nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 01. August 1936 verstorben war und so die Urteilsbegründung in der Hauptverhandlung nicht mehr erlebte, was ihm aber ersparte mit anzuhören, mit welchen hahnebüchenen Argumenten das Amtsgericht St. Wendel und das Oberlandesgericht Saarlouis die Verurteilung nach dem Blutschutzgesetz begründete.

Im Folgenden werden die Urteile und ihre Begründungen wörtlich wiedergegeben:

„Urteil des Amtsgerichtes St. Wendel. - 8. September 1936. - Az. 3 Ds. 61/36 gez. Klein.

Im Namen des Deutschen Volkes.

In der Strafsache gegen die Ehefrau Eugen Berl, Erna geb. Herz in St. Wendel, Schlossstraße 6, geboren am 20. Januar 1888 in Mainz, jüdisch, deutsche Reichsangehörige, unbestraft, wegen Vergehens gegen §(§) 3, 5 Abs.3 des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutesiv und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 ... und § 12 der ersten Ausführungsverordnung vom 18. November 1935 ... hat das Amtsgericht in St. Wendel in der Sitzung am 8. September 1936 ... für recht erkannt:

Die Angeklagte wird wegen Vergehens gegen das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 zu 30 Reichsmark Geldstrafe, hilfsweise einen Tag Gefängnis für je 5 RM und in die Kosten verurteilt, soweit diese durch das Verfahren gegen sie entstanden sind.

Gründe:

Die Hauptverhandlung hat auf Grund der Angaben der Angeklagten Ehefrau Berl und der Aussage der Zeugin Kramer folgenden Sachverhalt ergeben:

Der im Jahre 1870 geborene mitangeklagt gewesene Ehemann Berl, der nach der Eröffnung des Hauptverfahrens verstorben ist, betrieb in St. Wendel ein kleines Ladengeschäft. In diesem sind die 30-jährige Modistin Kramer und das 15-jährige Lehrmädchen Jung, die beide deutschblütig sind, als einzige Angestellte tätig. Die Eheleute Berl sind Juden. Im Auftrag der Ehefrau Berl, die unterleibsleidend ist, haben die beiden genannten Angestellten auch noch nach dem 1. Januar 1936 häufig im Haushalt der Eheleute Berl alltägliche Hausarbeiten, wie Bettenmachen, Kücheaufräumen, Wäscheausdrehen, Wohnung- und Schuheputzen und ähnliche verrichtet. Der (9)Erna  FritzHausgemeinschaft der Eheleute Berl gehört außer dem Ehemann nur ein männliches Mitglied an, nämlich der 11-jährige Sohn.

Da der Ehemann Berl Jude war, war der Haushalt der Eheleute Berl jüdisch im Sinne des § 3 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre in Verbindung mit § 12 der ersten Verordnung zur Ausführung dieses Gesetzes.

In einem Arbeitsverhältnis standen die beiden Angestellten nur zu dem Ehemann Berl, denn dieser war Inhaber des Geschäftes. Auf Grund und aus Anlaß des Arbeitsvertrages wurden sie aber von der Ehefrau Berl zu den Hausarbeiten herangezogen, so daß auch diese im Rahmen des Arbeitsverhältnisses verrichtet wurden. Eine solche Heranziehung von Ladenangestellten zu Hausarbeiten in der geschäftsstillen Zeit ist bei kleineren Läden keine Seltenheit. Von einer reinen Gefälligkeit der beiden Angeklagten kann daher keine Rede sein.

Die Ansicht der Ehefrau Berl, die Vorschrift des § 3 des genannten Gesetzes erstrecke sich nur auf den Haushaltsvorstand, so daß auch nur dieser strafbar sei, findet im Gesetz keine Stütze. Nach dem Sinn des Gesetzes soll vielmehr jeder bestraft werden, der in einem jüdischen Haushalt deutsche arische Personen beschäftigt. § 13 der genannten Verordnung dehnt die Strafvorschrift sogar auf Nichtjuden aus.

Hiernach hatte die Ehefrau Berl nach dem 1. Januar 1936 fortgesetzt handelnd vorsätzlich weibliche Staatsangehörige deutschen Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt beschäftigt (Vergehen gegen § 3 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre in Verbindung mit § 12 der ersten Ausführungsverordnung dazu).

Sie war daher gemäß § 5 Abs. 3 dieses Gesetzes zu verurteilen. Die erkannte mäßige Geldstrafe erschien aus folgenden Gründen ausreichend: Die Angeklagte mag sich im Hinblick darauf, daß die Angestellten weitaus überwiegend im Laden tätig waren, der Strafbarkeit ihres Tuns nicht bewußt gewesen sein. Das Gesetz will lediglich die Vermischung jüdischen und deutschen Blutes verhindern. Die Gefahr einer solchen war aber im Hinblick darauf, daß der Ehemann Berl bereits 65 Jahre alt war, nur ganz gering. Die Angeklagte hat die beiden Angestellten nicht aus Bequemlichkeit in dem Haushalt beschäftigt, sondern deshalb, weil ihr infolge ihres Leidens die Verrichtung von Arbeit im Haushalt schwer fällt. Die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Angeklagten sind nicht günstig.

Die Strafklage gegen den Ehemann Berl ist durch seinen Tod erloschen, so daß es einer förmlichen Einstellung des gegen ihn gerichteten Verfahrens nicht bedarf (vgl. Löwe-Rosenberg stopp 1927 S. 368).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 StPO."

Soweit der Wortlaut des Urteils des Amtsgerichtes St. Wendel, das von dem Richter „Klein" gesprochen wurde. Es mag wohl so gewesen sein, dass dem Richter Frau Erna Berl persönlich bekannt gewesen war, schließlich gehörte die Familie Berl in St. Wendel zu den hoch angesehenen Einwohnern. Deshalb ist auch möglicherweise die Strafe so gering ausgefallen. Aber der Richter hätte sicherlich auch anders urteilen können, zu Gunsten von Frau Berl, ohne sie zu bestrafen. Er hatte eine Wahl. Die Möglichkeit wäre sogar auch trotz dieses schrecklichen Gesetzes gegeben gewesen.
Frau Berl wurde vorgeworfen, „auch noch nach dem 1. Januar 1936 fortgesetzt handelnd" gegen das Blutschutzgesetz verstoßen zu haben, dabei war sie eigentlich noch bis zum 29. Februar 1936 durch die „Römischen Verträge" geschützt. Es lag sogar eine Anweisung vom Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarlandes, Bürckel, vor, in der auf strikte Einhaltung des Abkommens hingewiesen wurde, insbesondere was die Nichtanwendung der „Nürnberger Rassengesetzte" betraf. Der Richter hätte also das Verfahren überhaupt nicht zu eröffnen brauchen. Aber er tat es trotzdem.
Auch war Frau Berl nicht der Haushaltsvorstand und die beiden weiblichen Angestellten standen in keinem Arbeitsverhältnis zu ihr, sondern lediglich zu ihrem Gatten. Eugen Berl war aber am 01. August 1936 verstorben, so dass, wäre Richter Klein der Argumentation von Frau Berl gefolgt, er das Verfahren hätte einstellen können. Er tat es aber nicht, sondern wandte das schreckliche Gesetz kompromisslos an.
Entlarvend in der Urteilsbegründung ist sicherlich der Satz „Das Gesetz will lediglich die Vermischung jüdischen und deutschen Blutes verhindern." Der Richter folgte also der bösen Unterstellung, die im Blutschutzgesetz unausgesprochen beinhaltet war, dass Juden nur darauf aus wären, junge arische deutsche Frauen zu verführen und sie nur deshalb in ihrem Haushalt arbeiten ließen. Aber in diesem Fall erkannte sogar der St. Wendeler Amtsrichter, dass „die Gefahr einer solchen (Vermischung) ... aber im Hinblick darauf, daß der Ehemann Berl bereits 65 Jahre alt war, nur ganz gering (war)." Auf Grund dieser Erkenntnis hätte er den Schuldspruch jedoch nicht zu fällen brauchen. Er hatte die Wahl. Hätte er menschlich entschieden, so kann bezweifelt werden, dass er große Nachteile gehabt hätte.
Auch ist dem Urteil zu entnehmen, dass Frau Berl so ganz und gar nicht dem Klischee vom reichen Juden entsprach. Der Richter führte klipp und klar aus: „Die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Angeklagten sind nicht günstig."

Erna Berl ging in die Revision und am 02. September 1937 sprach der Strafsenat des Oberlandesgerichtes Köln, Zweigstelle Saarlouis, unterschrieben von den Richtern „Oster, Dr. Heimsoeth und Kammenhuber", folgendes im Wortlaut wiedergegebenes Urteil:

„Die Revision der Angeklagten wurde am 2. September 1937 von dem Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln, Zweigstelle Saarlouis, kostenpflichtig verworfen.

Gründe:

Durch das angefochtene Urteil ist die Angeklagte wegen Beihilfe zu einem von ihrem verstorbenen Ehemann begangenen Vergehen gegen §§ 3 und 5 Abs. 3 des Blutschutzgesetzes zu einer Geldstrafe von 30 RM im Nichtbeitreibungsfalle zu drei Tagen Gefängnis und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt worden.

Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte fristgerecht Revision eingelegt und diese nach Zustellung des Urteils durch ihren Verteidiger auch fristgerecht begründet. Die Revision ist daher zulässig, jedoch sachlich nicht begründet.

Der Senat hat sich bereits in seinem Urteil vom 26. November 1936 mit der Rechtslage in vorliegender Sache befaßt und ist hierbei zu dem Ergebnis gelangt, daß nach § 3 und 5 Abs. 3 des Blutschutzgesetzes nur der Haushaltsvorstand, im vorliegenden Fall der verstorbene Ehemann der Angeklagten, strafbar ist, daß aber dennoch die Möglichkeit besteht, das Verhalten der jetzt angeklagten Ehefrau als strafbare Beihilfe zu dem von dem Ehemann begangenen Vergehen anzusehen. Der Senat verbleibt bei diesem Rechtsstandpunkt und verweist zu seiner Stütze neben der früher angegebenen Literatur auch auf den inzwischen erschienenen Kommentar zum Blutschutzgesetz von Gütt-Linden-Massfeller (zu § 3 Anm. IV, zu § 5 Abs. 3 Anm. 1 Abs. 2).

Zu prüfen ist daher lediglich, ob in vorliegendem Falle die tatsächlichen Feststellungen der Strafkammer zu einer Verurteilung der Angeklagten wegen Beihilfe ausreichen. Dies ist unbedenklich zu bejahen. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision gehen fehl. Die Rechtskonstruktion der Strafkammer, die das Vergehen des verstorbenen Ehemannes in der Unterlassung der Verhinderung einer Beschäftigung der deutschblütigen Angestellten in dem jüdischen Haushalt erblickt, ist entgegen der Ansicht der Revision durchaus haltbar. Auch die Annahme einer Beihilfe zu diesem durch Unterlassung begangenen Vergehen begegnet keinem rechtlichen Bedenken. Die anderweitige Rechtsauffassung des Amtsgerichts in St. Wendel, welches als rein tatsächliche Täterin die Angeklagte sieht, mit dem früheren Urteil des Senats jedoch die Verantwortlichkeit des Ehemannes als Haushaltsvorstand bejaht und daher zu der Annahme einer sogenannten fiktiven Täterschaft des Ehemannes gelangt, ist ebenfalls rechtlich zutreffend begründet und haltbar. Dann besteht auch kein Grund, die rechtliche Möglichkeit einer Beihilfe zu einer solchen fiktiven Täterschaft zu verneinen. Im Gegenteil liegt es gerade in diesen Fällen der fiktiven Täterschaft nahe, den tatsächlich Handelnden als den Helfer des Verantwortlichen anzusehen. Schließlich aber besteht nach Auffassung des Senats auch die nächstliegende Möglichkeit, eine unmittelbare und positive Täterschaft des Ehemannes anzunehmen, welcher dann die Ehefrau Beihilfe leistete. Der verstorbene Ehemann der Angeklagten war in seiner Person gleichzeitig Haushaltsvorstand, Inhaber des Ladengeschäfts und Arbeitgeber der im Ladengeschäft beschäftigten Angestellten. Als solcher hat er diese Angestellten seiner Ehefrau als der tatsächlichen Führerin des Haushaltes zum Zwecke der zeitweisen Beschäftigung im Haushalt zur Verfügung gestellt. Darin liegt sein strafbares Vergehen gegen das Blutschutzgesetz. Die Ehefrau hat alsdann die Beschäftigung der Angestellten im Haushalt nach Zeit, Art und Umfang der Arbeiten näher geregelt und auf diese Weise ihrem Ehemann zur Ausführung von dessen Vergehen geholfen. Denn seine zur Verfügungstellung der Angestellten für die Haushaltsarbeiten würde unvollkommen geblieben sein, wenn nicht die Ehefrau durch die bezeichneten Anordnungen die Verwendung der Angestellten im Haushalt geregelt hätte. Auch auf diesem Wege ist daher die rechtliche Annahme einer Beihilfe zu dem Vergehen des Ehemannes durchaus haltbar. Die tatsächlichen Feststellungen der Strafkammer bieten für diese Annahme eine völlig ausreichende Grundlage.
Alle vorstehenden Erwägungen werden nicht dadurch ausgeschlossen, daß die beiden Angestellten zeitweise ihre Arbeiten aus freien Stücken ohne entsprechende Anordnung der Angeklagten ausgeführt haben. Denn daß daneben auch Anordnungen ergangen sind, hat die Strafkammer tatsächlich festgestellt.
Schließlich kann die Angeklagte auch nicht durch die Behauptung der Revision entlastet werden, daß ihr die Strafbarkeit des Verhaltens ihres Ehemannes nicht zum Bewußtsein gelangt sei. Der Angeklagten war die tatsächliche Handlungsweise ihres Ehemannes bekannt, zu dieser hat sie wissentlich Beihilfe geleistet. Ob sie sich der Strafbarkeit des Vorgehens ihres Ehemannes bewußt gewesen ist, ist gleichgültig, da es sich hiebei höchstens um einen unbeachtlichen Strafrechtsirrtum handeln würde. Die Revision der Angeklagten war daher als unbegründet mit Kostenfolge aus § 473 StPO zu verwerfen."

Dieses Beispiel aus St. Wendel zeigt, wie willkürlich die Richterschaft geneigt war, auch noch so verbrecherische Gesetze wie das „Blutschutzgesetz" anzuwenden. Ganz abgesehen davon, daß die Familie Berl bis zum 29. Februar 1936 offiziell rechtlich vor der Verurteilung nach den „Nürnberger Rassengesetzen" geschützt war, hätten die Richter nach eigener Erkenntnis Frau Berl frei sprechen können. In der Urteilsbegründung der Revision führen sie aus: „Der Senat ... ist hierbei zu dem Ergebnis gelangt, daß nach § 3 und 5 Abs. 3 des Blutschutzgesetzes nur der Haushaltsvorstand, im vorliegenden Fall der verstorbene Ehemann der Angeklagten, strafbar ist, daß aber dennoch die Möglichkeit besteht, das Verhalten der jetzt angeklagten Ehefrau als strafbare Beihilfe zu dem von dem Ehemann begangenen Vergehen anzusehen." Das Gericht stellte also fest, dass eigentlich nur der verstorbene Ehemann schuldig sei, dass es aber dennoch einen Weg gäbe, auch die Ehefrau schuldig zu sprechen. Obwohl diese Erkenntnis der Richter ihnen die Möglichkeit eröffnete, Erna Berl nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten" frei zu sprechen, suchten sie nach Wegen, das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen und Frau Berl nach dem „Blutschutzgesetz" zu verurteilen. Sie hatten die Wahl, waren aber gnadenlos. Erna Berl musste nach dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" abgeurteilt werden.

Wie es Erna Berl in den Jahren bis zu ihrer Deportation in St. Wendel weiterhin erging, konnte noch nicht erforscht werden. Wie sich die St. Wendeler Bürger, ihre Nachbarn, ihr gegenüber verhielten, ob sie ihr ein wenig beistanden, ihr schweres Los zu meistern, oder ob sie sie ausgrenzten und alleine ließen, darüber gibt es keine Informationen. Fest steht jedenfalls, dass ihr Name in den Akten der Gestapo Neustadt, die im Staatsarchiv Speyer aufbewahrt werden, aufgeführt ist. Im Zuge der „Aktion Bürckel" wurde sie am 22. Oktober 1940 mit vier weiteren St. Wendeler Bürgern und Bürgerinnen - den letzten St. Wendeler Juden - zusammen mit 134 Glaubensgenossen aus dem Saarland im Sammeltransport ins Internierungslager nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Am gleichen Tag lief im St. Wendeler Central-Theater der Hetzfilm „Jud Süß". St. Wendel war damit „judenfrei".

Erna Berl befand sich bis zum 06. August 1942 im Lager Gurs, von wo sie ins Sammellager Drancy bei Paris transportiert wurde. Ihr Name findet sich dann wieder auf der Transportliste des Transportes Nr. 17, der am 10.08.1942 von Drancy nach Auschwitz ging. Das ist ihre letzte Spur. Amtlicherseits wurde ihr Todestag auf den 08. Mai 1945 festgelegt, wahrscheinlich wurde sie aber noch am Tag der Ankunft in Auschwitz ins Gas geschickt. Für sie wurde am 9. April 2011 ein Stolperstein in der Schloßstraße 6/8 verlegt.

Max and Fritz BerlDer Sohn von Erna und Eugen Berl aus 2. Ehe, Fritz, konnte 1939 aus Deutschland fliehen. Als 14-jähriger verließ er heimlich mit der Reichsbahn St. Wendel und gelangte nach Ancona in Italien, wo ihn ein von einer jüdischen Geheimorganisation gechartertes Schiff nach Haifa brachte. Dort lebte er bei seinem Bruder Max (Foto). Zuvor war er im Zuge der Pogromnacht im November 1938 für einige Tage verhaftet worden und am 14. November 1938 mit „Schmährufen vom Gymnasium Wendalinum vertrieben worden, nachdem Oberstudiendirektor Schulz kurz zuvor eine Hetzrede gegen die Juden gehalten hatte." Fritz starb im Juli 2000 in Israel.

Literaturhinweis:
Eberhard Wagner, "Marpingen und der Kreis St. Wendel unter dem Hakenkreuz", St. Ingbert 2008